Russland: Mut und Courage

„A reckoning will come. Vladimiar Kara-Muza’s last statement at a Russion court“ The Washington Post, 10.4.2023*

„Mitglieder des Gerichts: Ich war mir sicher, nach zwei Jahrzehnten in der russischen Politik, nach allem, was ich gesehen und erlebt habe, dass mich nichts mehr überraschen kann. Ich muss zugeben, dass ich mich geirrt habe. Ich war überrascht, inwieweit mein Prozess in seiner Geheimhaltung und Missachtung von Rechtsnormen sogar die „Prozesse“ gegen sowjetische Dissidenten in den 1960er und 1970er Jahren übertroffen hat. Ganz zu schweigen von der Härte des von der Staatsanwaltschaft geforderten Strafmaßes oder der Rede von „Staatsfeinden“. In dieser Hinsicht sind wir über die 1970er Jahre hinausgegangen – bis zurück in die 1930er Jahre. Für mich als Historiker ist dies ein Anlass zum Nachdenken.

An einem Punkt während meiner Aussage erinnerte mich der vorsitzende Richter daran, dass einer der mildernden Umstände „Reue für das, was [der Angeklagte] getan hat“, war. Und obwohl meine jetzige Situation wenig amüsant ist, konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen: Der Verbrecher muss natürlich seine Taten bereuen. Ich bin wegen meiner politischen Ansichten im Gefängnis. Dafür, dass er sich gegen den Krieg in der Ukraine ausgesprochen hat. Für viele Jahre Kampf gegen die Diktatur von Wladimir Putin. Für die Erleichterung der Verabschiedung persönlicher internationaler Sanktionen nach dem Magnitsky-Gesetz gegen Menschenrechtsverletzer.

Ich bereue nichts davon, ich bin stolz darauf. Ich bin stolz darauf, dass Boris Nemzow mich in die Politik gebracht hat. Und ich hoffe, dass er sich meiner nicht schämt. Ich unterschreibe jedes Wort, das ich gesprochen habe, und jedes Wort, dessen ich von diesem Gericht beschuldigt wurde. Ich mache mir nur einen Vorwurf: dass ich es in den Jahren meiner politischen Tätigkeit nicht geschafft habe, genügend Landsleute und genügend Politiker in den demokratischen Ländern von der Gefahr zu überzeugen, die das gegenwärtige Regime im Kreml für Russland und die Welt darstellt . Heute ist dies für jeden offensichtlich, aber zu einem schrecklichen Preis – dem Preis des Krieges.

In ihren letzten Aussagen vor Gericht fordern die Angeklagten in der Regel einen Freispruch. Für eine Person, die keine Verbrechen begangen hat, wäre ein Freispruch das einzig gerechte Urteil. Aber ich verlange von diesem Gericht nichts. Ich kenne das Urteil. Ich wusste es vor einem Jahr, als ich im Rückspiegel Leute in schwarzen Uniformen und schwarzen Masken hinter meinem Auto herlaufen sah. Das ist der Preis dafür, sich heute in Russland zu Wort zu melden.

Aber ich weiß auch, dass der Tag kommen wird, an dem sich die Dunkelheit über unserem Land auflösen wird. Wenn Schwarz Schwarz genannt wird und Weiß Weiß genannt wird; wenn auf offizieller Ebene anerkannt wird, dass zwei mal zwei immer noch vier ist; wenn ein Krieg ein Krieg genannt wird und ein Usurpator ein Usurpator; und wenn diejenigen, die diesen Krieg entfacht und entfesselt haben, und nicht diejenigen, die versucht haben, ihn zu stoppen, als Verbrecher anerkannt werden.

Dieser Tag wird so unvermeidlich kommen, wie der Frühling selbst auf den kältesten Winter folgt. Und dann wird unsere Gesellschaft die Augen öffnen und entsetzt darüber sein, welche schrecklichen Verbrechen in ihrem Namen begangen wurden. Von dieser Erkenntnis, von dieser Reflexion aus wird der lange, schwierige, aber lebenswichtige Weg zur Genesung und Wiederherstellung Russlands, seiner Rückkehr in die Gemeinschaft der zivilisierten Länder beginnen.

Auch heute noch, sogar in der Dunkelheit, die uns umgibt, selbst wenn ich in diesem Käfig sitze, liebe ich mein Land und glaube an unser Volk. Ich glaube, dass wir diesen Weg gehen können.“

Vladimir Kara-Murza wurde zu 25 Jahren Straflager verurteilt.

  • übersetzt via Google Translate v. Reiner Jüngst; Oberes Foto: „Tapferkeit“ by Chat GBT

Nachtrag am 25.11.2023: So kommentiert der russische Botschafter in Malaysia den Angriff Russlands auf die Ukraine

True architects of the Ukraine crisis. New Straits Times, Kuala Lumpur, 23.11.2023

In Gottes Namen?

Wir gehen im christlichen Abendland davon aus, dass die Institution Kirche bei Konflikten und Kriegen ihre Botschaft von Frieden und Aussöhnung rüber bringt. Warum fehlt die im Bruderkrieg zwischen Russland und der Ukraine? Es ist zugleich die Frage nach der Rolle der orthodoxen Kirche in Russland.

Geburtskathedrale, Riga (Lettland)

Die kurze Antwort auf die Frage: Die Kirche in Russland ist Komplize, nicht Gegenöffentlichkeit, wie es die evangelische Kirche in der DDR oder die lateinamerikanischen Basiskirchen einst waren.

Nachtrag 3.4.22: Kyrill Urges Soldiers to Defend Peace. Reuters via Yahoo, 3.4.2022

Das enge Verhältnis zwischen Staat und Kirche nach dem Ende der Sowjetunion ist beispielhaft am Neubau der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau dokumentiert (vgl. dazu den Beitrag von Sidorov in der Geographischen Rundschau).

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Im Zentrum Moskaus und auf Sichtentfernung zum Kreml symbolisiert sie diese enge Bindung: der Staat fördert die Kirche – die Kirche unterstützt den Staat ideologisch. Die Protestaktion der Gruppe Pussy Riots im Februar 2012 spielte nicht von ungefähr in der Christ-Erlöser-Kathedrale (einige Mitglieder der Band zahlten mit zwei Jahren Gefängnis für diese Aktion).

Der Moskauer Patriarch Kyrill I. steht hinter dem Angriff auf die Ukraine, obwohl auch dort die orthodoxe Kirche dominiert. Dahinter verbirgt sich ein Weltbild, das wenig mit den biblischen Grundsätzen zu tun hat. Es deckt sich mit der vom Präsidenten favorisierten Ideologie des Philosophen Ivan Ilyin (wie es der amerkanische Osteuropaexperte Timothy Synder analysiert, s.u.).

Im Oktober 2020 waren wir auf einer einsamen Landstraße im Nordosten von Chalkidiki unterwegs. Dort kam uns mitten im Nirgendwo eine Autokolonne mit einer russisch beflaggte Limousine entgegen. Ohne Zweifel ein ranghoher russischer Politker, der von Athos kommend Richtung Thessaloniki unterwegs war.

Dass die Kirche in Russland als Gegenöffentlichkeit in einem autoritären Staat fehlt, ist im brutalen Krieg gegen die Ukraine besonders tragisch. Denn im Kiewer Rus beginnt vor etwas über tausend Jahren die Geschichte der orthodoxen Kirche im damaligen Russland. Derzeit bombardiert Russland seine kulturellen Wurzeln.

Quellen und weitere Informationen:

Themenheft „Russland“, Geographische Rundschau 1 (Januar) 2011

Themenheft „Russland“, Geographische Rundschau 12 (Dezember) 2003. darin Beitrag: Dimitrij Sidorov: Raum für Religion? Die neue alte Rolle der Russisch-Orthodoxen Kirche. S. 58-65

Themenheft „Ukraine“, Geographische Rundschau 12 (Dezember) 2007 darin Beitrag: Peter Lindner, Tobias Bergner: Aufbruch nach Westen? Die Ukraine drei Jahre nach der „Orangenen Revolution“, S. 4-10

Gerhard Halter, Sebastian Kinder: Krieg in der Ukraine – Entstehung des Konflikts und geopolitische Narrationen. Geographische Rundschau 5 (Mai) 2015, S. 40-48

Timothy Snyder*: Ivan Ilyin, Putin’s Philosopher of Russian Fascism. The New York Review, 16. März 2018

Anm.: Timothy Snyder gilt als der Experte für Osteuropa-Geschichte und hat sehr viele Beiträge zu Putin und Russland publiziert

Nachtrag 16.3.2022 aus SPIEGEL online:

Patriarch Kirill und Papst Franziskus telefonieren

16.20 Uhr: Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kirill, hat nach Angaben aus Moskau mit Papst Franziskus telefoniert. Bei dem Telefonat sei es ausführlich um die Lage in der Ukraine gegangen, teilte die russisch-orthodoxe Kirche am Mittwoch mit. Es sei um Maßnahmen gegangen, die beide Kirchen zur Überwindung der Krise beitragen könnten.

Nach Angaben aus Moskau haben Kirill und Franziskus die Bedeutung der Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine betont. Sie hätten die Hoffnungen auf einen baldigen Frieden zum Ausdruck gebracht. Der Vatikan äußerte sich zunächst nicht zu dem überraschenden Telefonat.

Das Verhältnis zwischen dem Kirchenstaat und dem russisch-orthodoxen Patriarchat in Moskau ist sehr schwierig. Patriarch Kirill hat sich stets hinter die Politik von Präsident Wladimir Putin gestellt. Er hat zudem dem Westen die Schuld an dem Krieg gegeben, den Putin vor gut drei Wochen befohlen hatte. Der Vatikan bemüht sich seit Beginn des Krieges um eine Rolle als Friedensvermittler.